
80 Missionen des Jahres 2011 waren Orbitalstarts, 4 Flüge gingen in den interplanetaren Raum oder zum Mond, oder hatten zumindest ein extraterrestrisches Objekt zum Ziel (auch wenn sie es schlussendlich nicht erreichten).
78 Flüge waren von Seiten des Trägers her vollständig erfolgreich. Es kam zu insgesamt sechs Fehlstarts. Eine derart hohe Zahl hatte es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Darunter war eine extrem ungewöhnliche Häufung von drei Fehlstarts in Folge zwischen dem 17. und 26. August.
Ein besonders spektakuläres Fehlerszenario ergab sich beim Start zur Mission Fobos-Grunt zum Marsmond Phobos. Der Träger, eine Zenit 2F, arbeitete einwandfrei. Nach dem Erreichen des Erdorbits versagte jedoch aus immer noch ungeklärter Ursache der Antrieb der Raumsonde und Fobos-Grunt strandete in einem niedrigen Erdorbit. Insgesamt ergibt sich damit – ohne Fobos-Grunt – eine Fehlerquote von 7,2 Prozent. So hoch wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr.
Trotz seines erfolgreichen Abschlusses war es ein Jahr mit recht gemischter Resultaten. Einigen eindrucksvollen Erfolgen standen mindestens ebensoviele eindrucksvolle Fehlschläge gegenüber. Sehen wir uns die Bilanz der Raumfahrtnationen einmal im Detail an:
Russland
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte die russische Raumfahrt ein Jahr der Katastrophen hinter sich. Es fanden 35 Starts statt, für die fünf verschiedene Trägertypen eingesetzt wurden. Fünf der Missionen endeten im Desaster.
Zwei Raumfahrzeuge (Progress M-12M und Meridian 5) erreichten gar nicht erst den Orbit, zwei weitere (Geo-IK 2 und Ekspress AM 4) wurden auf einer falschen Bahn abgesetzt und waren in der Folge nicht verwendungsfähig. Den spektakulären Fehlschlag der Raumsonde Phobos-Grunt (der ersten russischen Raumsonde seit 15 Jahren) verfolgen wir immer. Das Ende dieser Sonde wird derzeit um den 15. Januar herum erwartet, wenn sie wieder in die Erdatmosphäre eintritt.
Die russische Fehlerserie hatte schon im Dezember 2010 begonnen, als drei Navigationssatelliten der Glonass-Konstellation abstürzten, weil die Oberstufe der Proton-Trägerrakete falsch betankt worden war. Somit verzeichnet Russland sogar sechs Fehlschläge in nur 13 Monaten.
Man muss Jahrzehnte zurückgehen , um auf auf eine ähnliche Anzahl von Fehlstarts zu treffen. Zuletzt passierte das im Jahr 1990. Damals kam es zu fünf Fehlschlägen. Allerdings fanden in diesem Jahr auch insgesamt 72 sowjetische Starts statt, die Fehlerquote lag also nur bei sieben Prozent.
Doch Russland hatte durchaus auch Erfolge. Nicht nur dass dieses Land weltweit die meisten Starts abwickelte (fast soviele wie die beiden nächsten, China und die USA, zusammen), es wurden auch eine Reihe bemerkenswerter Nutzlasten erfolgreich in den Orbit gebracht, darunter der Radio-Astronomiesatellit Spektr-R und der Wettersatellit Elektro-L. Darüber hinaus wurde der Wiederaufbaus des russischen Datenrelay-Systems mit dem Start von Luch 5A in Angriff genommen und mit Glonass K wurde der erste Navigationssatellit einer neuen Generation gestartet.
Nach wie vor, und das wird weit in die absehbare Zukunft hinein der Fall sein, hängt das Wohl und Wehe der Internationalen Raumstation vollständig von Russlands Raumfahrtfähigkeiten ab. 2011 führte Russland vier bemannte Starts zur ISS durch und zusätzlich vier erfolgreiche Progress-Versorgungsflüge.
Und schließlich gelangen Russland die ersten beiden Starts von der neuen Startanlage in Kourou. So sehr Arianespace die Sojus-Flüge von Kourou als westeuropäisches Vorhaben zu verkaufen versucht, es ändert nichts an der Tatsache, dass es sich hier um russische Starts handelt. Durchgeführt von russischen Technikern mit russischen Trägerraketen von einer russischen Startanlage.
China
Chinas Raumfahrt befindet sich weiterhin in stetigem Aufstieg. Was die Anzahl der Starts betrifft, ist China in diesem Jahr erstmals die Nummer zwei. 19 Missionen waren es in diesem Jahr, vier mehr als 2010. Auch China erlebte in diesem Jahr einen Fehlstart, dessen Folgen es allerdings innerhalb weniger Wochen überwand.
Die chinesische Raumfahrt ist breitbandig angelegt und umfasst inzwischen praktisch alle Raumfahrtdisziplinen. Von der bemannten Raumfahrt bis zu interplanetaren Sonden, von Kommunikations- und Datenrelaysatelliten bis hin zu Erdbeobachtungssatelliten für jeden erdenklichen Zweck. Von rückführbaren Forschungssatelliten bis zu Raumfahrzeugen für die technische und physikalische Forschung.
China hat derzeit drei Entwicklungsprogramme für Trägerraketen gleichzeitig am Laufen. Es entwickelt – ebenfalls parallel – vier neue Großtriebwerke gleichzeitig und errichtet ein vollständig neues Raumfahrtzentrum auf der Insel Hainan. Auf dem Gebiet der Kommunikationssatelliten, derzeit noch weitgehend das Revier der USA, Europas und zu einem gewissen Grad auch Japans hat China die Verfolgung aufgenommen und schließt schnell auf.
China startete in diesem Jahr mit Tiangong 1 auch erstmals ein bemannbares Raumlabor und erprobte es bereits beim unbemannten Einsatz eines Shenzhou-Raumschiffs. Beobachter erwarten, dass im kommenden Jahr zwei bemannte Missionen zur chinesischen Mini-Station führen werden.
USA
Die USA führten 2011 18 Missionen durch und brachten dabei sechs verschiedene Trägertypen zum Einsatz. Die Delta 2 in den Versionen 7320-10C, 7920-10C und 7920H-10, die Delta 4 in den Versionen "M+ (4,2)" und "Heavy", die Minotaur in den Versionen Minotaur 1 und Minotaur IV+, die Atlas 5 (in fünf Versionen) und die Taurus XL. Die für die bemannten US-Missionen eingesetzten Shuttles waren die Discovery (1), die Endeavour (1) und die Atlantis (1). Das Shuttle-Programm wurde in diesem Jahr beendet.
Insgesamt ist die US-Raumfahrtbilanz des Jahres 2011 eher mäßig: Die insgesamt eher geringe Anzahl von Starts hatte zur Folge, dass erstmals China an den USA vorbeibeizog. Auch die USA hatten einen Fehlschlag zu verzeichnen, als am 5. März eine Taurus XL-Rakete den Umweltsatelliten Glory im Pazifik versenkte, statt ihn auf einer polaren Umlaufbahn abzusetzen.
Wie die Stimmung in den USA ist, zeigt, dass dort ausgerechnet eine Negativmeldung als Raumfahrtereignis Nummer betrachtet wird: Der Rückzug des Shuttle aus dem aktiven Dienst. Die Discovery, die Endeavour und die Atlantis flogen in diesem Jahr jeweils noch eine letzte Mission. Nun wartet nicht mehr der Orbit auf sie, sondern Museen in New York, Washington und am Cape. US-Astronauten werden von nun an für viele Jahre nur noch mit den Russen zur ISS fliegen können.
Es gibt zwar eine bemerkenswerte Initiative zur Wiederherstellung der bemannten Raumfahrtkapazitäten, das CCDev-Programm (Commercial Crew Development Program), aber mangels vernünftige Finanzierung wird auch dieses Programm über Jahre hinaus keine US-Astronauten von amerikanischem Boden in den Weltraum bringen können.
Im Zusammenhang mit CCDev steht das COTS-Programm (Commercial Orbital Transport System) der NASA mit ihren geplanten „privaten“ Versorgungsflügen zur internationalen Raumstation. Hier ist es zu weiteren Verzögerungen gekommen. Weder flog in diesem Jahr, wie es eigentlich erwartet worden war, die Kombination aus Taurus 2 und Cygnus, noch die Falcon 9 mit der Dragon-Kapsel.
Nur die Militärprogramme scheinen ungeachtet der US-Finanzkrise in vollem Saft zu stehen. Die Startfolge überaus komplexer Nutzlasten war hier so dicht wie schon lange nicht mehr. Und offensichtlich kann man sich auch Missionen leisten, die aus der Außensicht eher Luxuscharakter haben. Beispiel: die X-37B.
Anders als im Verteidigungsministerium herrschte bei NASA dagegen 2011 Krisenstimmung, nun schon das dritte Jahr in Folge. Finanzierung und Ziele der US-Weltraumbehörde sind weiterhin unklar. Klar ist nur, dass ihre Mittel drastisch gekürzt werden. Das Programm der Umweltsatelliten leidet an den beiden Abstürzen der Jahre 2009 (mit OCO) und 2011 (mit Glory), es werden keine neuen planetaren Großprogramme mehr begonnen und die Kooperation mit Europa für die ExoMars-Mission wurde aus Geldmangel aufgekündigt. Da ist es fast ein Wunder, dass die Planetenforschung mittels Raumsonden in einer Blüte steht, wie nie zuvor in der Geschichte der US-Weltraumbehörde. Doch hier geht, zufällig mitten in der Krise, nur eine Saat auf, die schon vor Jahrzehnten gelegt wurde.
Eine große Anzahl von Raumsonden ist aktiv und sendet wissenschaftliche Daten zur Erde. Angefangen von den beiden mehr als 30 Jahre alten Voyagers, über New Horizons und Cassini, den Asteroiden-Erkunder Dawn, den Marsrover Opportunity, der Planetenfinder Kepler bis hin zum Merkurorbiter Messenger. Und das sind bei weitem nicht alle.
Neu gestartet wurden in diesem Jahr die Jupitersonde Juno, der Marsrover Curiosity und die beiden Grail-Mondsonden. Auch sie sind die Früchte von Programmen, die teilweise schon vor mehr als zehn Jahren begonnen wurden.
Wenn in diesen Tagen die NASA neue Programme reihenweise storniert, bedeutet das nichts anderes, als dass in einem Jahrzehnt keine US-Raumsonden mehr in die Tiefen des Sonnensystems starten werden.
Europa
Betrachtet man das Jahr 2011 isoliert, so hat Europa eine langweilige und wenig betriebssame Periode hinter sich gebracht. Gäbe es nicht die laufenden und bereits vor Jahren gestarteten Forschungsmissionen, es wäre wenig los im Moos. Auf ganze fünf Starts brachte es die Arianespace in diesem Jahr aus eigenen Kräften. Da mag man noch so oft mit den russischen Sojus 2.1b-Flüge von Kourou aus in die Gesamtbilanz aufblasen. Es ist nicht zu beschönigen, das Jahr 2011 ist eher mau gewesen. Immerhin: Es gab keine Fehlstarts.
Die Vega – Europas eigentlich ziemlich anspruchsloser neuer Kleinträger – hat es auch in diesem Jahr mal wieder nicht geschafft, von der Rampe zu kommen. Und gäbe es da nicht den schönen Erfolg mit dem zweiten ATV, es wäre mal wieder eine europäisches Raumfahrtjahr zum Gähnen gewesen.
Um den mit vielen Jahren Verzögerung heuer endlich durchgeführten Start der ersten beiden Galileo-Satelliten wurde glücklicherweise nicht der erwartete Remmidemmi gemacht. Zu beschämend ist die Abwicklung dieses Programm.
Japan – Indien - Iran
Japans Bilanz im Jahre 2011 ist recht ordentlich und liegt im Schnitt der letzten Jahre. Drei Starts, drei Erfolge, einer davon der Start des HTV-2 zur Internationalen Raumstation unter Einsatz von zwei Trägerraketentypen.
Auch Indien blieb bei seinen drei Starts jedesmal erfolgreich, was vor allem dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass man die konstruktiv völlig vermasselte GSLV das ganze Jahr über am Boden ließ und nur die leichtere PSLV einsetzte.
Und der Iran startete in diesem Jahr erneute einen Mikro-Satelliten mit einer eigenen Trägerrakete. Angesichts des Nutzlastgewichts und der Leistungsfähigkeit des eingesetzten Träger darf man aber nicht übersehen, dass die Fähigkeiten des Iran derzeit technologisch dem der späten fünfziger Jahre bei den beiden Supermächten entspricht. Von einer nennenswerten Transportkapazität in den Orbit ist der Iran weit entfernt. Immerhin: Es war ein Achtungserfolg.